Nichts gegen Sachbuchautoren. Meistens redliche Leute. Ganz Redliche verweisen sogar selbst auf dünne Stellen ihrer Werke,
wenn trotz aller Genauigkeit ihrer analytisch-wissenschaftlicher Beweisführung auch mal Hypothesen beim Löcherstopfen helfen müssen. Doch machen sie manchmal auch bei größter Sorgfalt keine
Furore.
So erging es um 1920 einem Herrn Ludwig v. Mises. Mit dem Buch „Die Gemeinwirtschaft - Untersuchungen über den
Sozialismus“ suchte er zu beweisen, daß ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem nach dieser Idee in der Praxis nicht funktionieren könne und operierte mit ökonomischen, rechtsphilosophischen,
soziologischen und historischen Argumenten. Keine Gnade fand er damit im intellektuellen Diskurs seiner Zeit, wo man einen Erlösungstraum sich nicht von einem Herrn v. Mises vermiesen lassen
wollte. Wo doch soeben in Russland eine große proletarische Revolution… das Glück der Mensch-heit …. in Riesenschritten…usw.
Hin und wieder finden sich Belege für die Behauptung, statt mit messerscharfen Methoden wissenschaftlicher Analyse sei
manchmal der Wahrheit näher zu kommen, wenn literarische Mittel angewandt würden. Das könne besonders dann gelingen, wenn ein Autor es schaffe, seiner Phantasie allerfreiesten Lauf zu lassen. So
geschehen 1891, knapp dreißig Jahre vor Herrn v. Mises, als sich der deutsche Politiker und Publizist Eugen Richter darin versuchte. Der war auf die Idee gekommen, sozialisti-sche Visionen, wie
damals von August Bebel formuliert, literarisch zu verarbeiten.
An Zukunfts-Romanen war auch damals kein Mangel; man liebte es, sich an Visionen zu ergötzen und Richters Buch fand gut
eine Viertelmillion Leser.
Nun zum Werk, das kürzlich eine Wiederauflage erlebt hat. Sein Originaltitel ist aus heutiger Sicht etwas
unglücklich gewählt: „Sozialdemokratische Zukunftsbilder“. Daß es andere, äußerst üble Menschheitsbeglücker waren, die viel, viel später mit von fremder Besatzungsmacht geliehener Autorität
jahrzehntelang sich an Land und Leuten austoben konnten, weiß man heute.
In seinem Roman nimmt Richter die stramm marxistischen Schriften August Bebels auf´s Korn, indem er dessen Visionen
mit vielen Details ausmalt. Heraus kommt die Beschreibung einer grottenfinsteren Zukunft, geprägt von Not, Chaos und Gewalt. Aus der Perspektive eines biederen Buchbindermeisters und überzeugten
Sozialdemokraten wird erzählt, wie in Berlin die Revolution gesiegt hat, endlich über dem Reichstag die rote Fahne weht und große Begeisterung herrscht über „die Aufer-stehung des neuen
Reiches der Brüderlichkeit und der allgemeinen Menschenliebe“.
Doch die Freude wird bald schon getrübt, als nach bejubelter Verstaatlichung der Wirtschaftsbetriebe eine allgemeine
Arbeitspflicht eingeführt wird. „Wie bitte?“ - fragt sich spätestens hier der gelernte DDR- Bürger, „das kommt Unsereinem doch bekannt vor...“ Als Zugabe kommt noch die Abschaffung der freien Berufswahl. Die sozialistische Vision hatte die „Emanzipation des Weibes“ versprochen
und beglückt wird die Menschheit in Richters Beschreibung durch den totalen Zugriff des Staates auf die Familien. Die Kinder müssen in Krippen abgeliefert werden und die Alten werden - nach den
Regeln des Staates, versteht sich - in Heimen untergebracht.
Die Wohnungen, wie auch immer sie beschaffen seien, werden den Werktätigen vom Staat zugewiesen, die Mahlzeiten in
riesigen Staatskantinen eingenommen. (in Rumänien erinnert man sich, daß neunzig Jahre später ein Großer Sozialistischer Conducator den Bau solcher Küchen ins Werk setzen ließ) Weiter: sämtliche
Vermögen sind enteignet und im großen Staats-haushalt aufgegangen. Gleichzeitig sinkt in allen Bereichen der Wirtschaft die Produktivität und mit ihr der Lebensstandard, es kommt zu
Versorgungsengpässen. „Nachtijall - ick hör´ dir trapsen“, können besagte Altgediente jetzt nur stöhnen, oder vor Lachen sich schütteln.
Von zeitgenössischen Publikums-Reaktionen ist wenig bekannt, nur drei denkbare Varianten seien hier grob
umrissen.
Es sagt A.: „Mein Gott! Der Kerl hat eine blühende Phantasie! Sozialistische Heilsversprechen halte auch ich für Kokolores
– doch muß man denn gleich soo maßlos übertreiben? Herr Richter soll mal auf dem Teppich bleiben...“
Dann B.: „Das meint der doch nicht ernst! Was er da als Zukunft beschreibt, ist eine schräge Satire mit Gruseleinlage –
sowas gibt’s doch in Wirklichkeit nicht! Sowas kann es gar nicht geben, nie und nimmer.“
Und C.: „Von wegen Satire! Der Autor ist bezahlter Schmierant im Dienste der Kapitalisten! Der will den
Fortschritt der Menschheit sabotieren mit gemeinsten Verleumdungen, wie sie nur einem kranken Hirn entspringen können. Hinweg mit dem Dreck!“
So etwa könnten Reaktionen von Zeitgenossen ausgesehen haben.
Einen Passus dürften Richters Gegner damals sehr krumm genommen und ihm vorgeworfen haben, den Sozialismus übelst zu
diffamieren, weil er geschrieben hatte, bald begännen die Menschen auszuwandern. Erst einige, dann immer mehr, schließlich massenhaft und so käme die sozialistische Obrigkeit auf die Idee, das
Land hermetisch abzuriegeln. Dazu hat Richter sich zu einem Satz hinreißen lassen, der 1891 wahrscheinlich vielen als besonders perfide erschienen war, Zitat: “Die Grenzpatrouil-len sind
angewiesen, gegen Flüchtlinge von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch zu machen“.
Da kann Unsereins heute nur in Schweigen erstarren, um mit innerer Stimme ein rhetorisches NEIN lautlos herauszuschreien.
Nein! Im Jahre 1891 solch ein Satz! Wenigstens wissen wir nun, welche Lektüre Ulbricht und Konsorten beim Mauerbau 1961 auf dem Tisch hatten.
Dann erkennt der gute Buchbindermeister die Systemschwächen. Er sieht, daß nur für eine abstrakte Gemeinschaft gelebt und
gearbeitet wird und individuelle Anreize kaum vorhanden sind. So schreitet statt des Fortschritts nur Eines stetig fort: der allgemeine Verfall der Wirtschaft. Zitat: „Viele Milliarden an Werten
hat die Umwälzung schon zerstört, weitere Milliarden müssen geopfert werden, um die jetzt vorhandene Desorganisation der Volkswirtschaft wieder zu beseitigen“. Aus exakt hundert Jahren Distanz
hat Eugen Richter es damit geschafft, sich durch vermutlich meditative Phantasie-Entgrenzung bis nahe an die „Treuhand-Anstalt“ heranzuarbeiten. Welch eine Leistung.
Unter den vielen, vielen Zukünften, die nie stattgefunden haben, kann also hin und wieder doch mal eine sein, die bis in
scheußlichste Details hinein sich vergegenwärtigt.
Überdenkt man die oben angeführten Publikums-Reaktionen „A.“ bis „C.“, könnte anhand dessen auch Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung“ lustvoll
persifliert werden zur „Welt als Glaube und Wollen“ mit den Unterabteilungen „Glauben-wollen“ und „Nichtglaubenwollen“, weil ein Glaube auch eine Frage des Wollens zu sein scheint.
Geht es uns in dieser Hinsicht heute besser als den Leuten vor hundertsiebzehn Jahren? Kaum. Eigentlich so gut wie fast gar nicht. Aus allen
möglichen Ecken und Enden werden auch wir tagtäglich vollgedröhnt mit Zukünften verschiedenster Art. Wieder stehen wir vor der schwierigen Frage, was ernst zu nehmen sei und was nicht, was davon
wir glauben sollen, wollen, dürfen oder müssen.